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Als Kritische Ausgabe stellt die KURT WEILL EDITION das Vermächtnis sämtlicher vollendeten Kompositionen Kurt Weills zur Verfügung. Bisher ist keines der Werke für das Musiktheater, die den Hauptteil seines Schaffens ausmachen, als Einheit von Dialog, Gesangstexten und Musik veröffentlicht worden, wie es mit dieser Ausgabe geschieht. Die Drucklegung der Partituren, die zu seinen Lebzeiten erschienen, wurde in ganz wenigen Fällen durch den Komponisten selber überwacht. Die Veröffentlichungsgeschichte spiegelt in ihrer Uneinheitlichkeit nicht nur die Vernachlässigung des Werkes wider, sondern auch dessen vielseitigen, von verschiedenen musikalischen Kulturen geprägten Charakter. Indem die Edition sonst unzugängliche Materialien zur Verfügung stellt und sich mit neuen editorischen Methoden auseinandersetzt, dient sie sowohl der Praxis als auch der Wissenschaft. Der Edition, die in vier Serien eingeteilt ist (Stage, Concert, Screen und Miscellenea), liegen editorische Prinzipien zugrunde, die mit ihrer Allgemeinheit und ihrer Flexibilität der berühmten Vielseitigkeit Weills gerecht werden möchten. Jeder Band enthält einen einleitenden Essay zur Werkgenese, Aufführungs-, Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte, zur editorischen Methode und gegebenenfalls zu Fragen der Aufführungspraxis. Der Notenteil wird neu hergestellt. Innerhalb der Partitur werden editorische Eingriffe nur im Falle von “Ossia”, Fußnoten und (sparsam gebrauchten) eckigen Klammern dokumentiert. Kritische Berichte, die editorische Entscheidungen ausführlich dokumentieren und eine vollständige Quellenbeschreibung und -bewertung enthalten, werden als separate Bände veröffentlicht. Der Text eines jeden musikdramatischen Werkes wird in der Originalsprache durchgehend zusammen mit der Musik präsentiert. Anhänge zum Notenteil spiegeln den dynamischen Prozeß der Entstehung und Aufführung; sie sind realisierbaren Alternativen und Ergänzungen zum Haupttext vorbehalten.

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Die Kompositionen Weills stets nach denselben editorischen Methoden herauszugeben, bedeutete eine unangemessene Vereinheitlichung eines Werkes, das in unterschiedlichem Maße die von historisch-kritischen Musikausgaben traditionell angewandten Methoden teils nahelegt und teils ihnen jedoch widerstrebt. Weill selber rühmte seine Fähigkeit, sich “in den Stil hineinzuarbeiten”, wie er einmal sagte. Doch trotz der Vielfalt der Gattungen und musikalischen Idiome, derer er in seiner über zwei Kontinente und über dreissig Jahre sich erstreckenden Karriere bediente, vermittelte er immer einen selbstbewußten Eindruck von seiner Identität und Berufung als Künstler. So betonte er 1932, mit Bezug auf die Dreigroschenoper aber mit Relevanz für sein Gesamtschaffen, die Wichtigkeit der genauen Vermittlung des “Klangbildes”, wie er es nannte, “das bei mir immer besonders wichtig ist”. Ob bei dem Entwurf eines Songs oder bei der Vollendung desselben durch Instrumentation, immer vollzog sich sein Schaffen sowie die Vermittlung seiner Musik in schriftlicher Form. Vollständige Partituren waren für seine Kunst unabdingbar. Und seine Werke wurden fast immer, wenn auch unvollkommen, als Text überliefert.

Aber der Text ist nicht identisch mit dem Werk. Zudem ist das Verhältnis zwischen diesen beiden von Werk zu Werk verschieden. Dies zu beachten, verlangt ein Ausmaß an editorischer Flexibilität, das die Voraussetzungen, die vielen Gesamtausgaben zugrunde liegen, geradezu unterläuft, so in erster Linie den Begriff des von der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte unberührten, autonomen Textes. Bezogen auf Weills Oeuvre ist ein solcher Begriff weitgehend unangemessen. Zwar läßt sich seine frühe Instrumentalmusik eher durch den traditionellen Ansatz erfassen als die späteren Werke. Doch auch sie, wie die Quellen zeigen, trägt Spuren eines Sozialisationsprozesses, der sich für die Opern bzw. für die Stücke für das musical theater als ein konstitutives Moment erweist.

Weill hat seine Karriere von Anfang an größtenteils dem Musiktheater gewidmet. Demnach sind die editorischen Herausforderungen, die seine Werke stellen, von derselben Art wie diejenigen, mit denen sich alle Ausgaben von Komponisten, die für das Theater schrieben, auseinandersetzen müssen. Kompositionen für die Bühne sind, in welchem Ausmaß auch immer, das Ergebnis von Zusammenarbeit; meistens findet ihre Entstehung nicht vor der Inszenierung statt, sondern sie ist mit ihr untrennbar verbunden. Sofern Materialien in schriftlicher Form–hauptsächlich Libretti und Partituren–eine Rolle dabei spielen, unterliegen sie dem Vorgang der Überarbeitung und Veränderung, der eine Funktion des Inszenierungsprozesses ist.

Wechsel der Besetzung bzw. des Aufführungsortes, Neuinszenierungen all diese Aspekte der Realisierung des Werkes mögen weitere Änderungen und Bearbeitungen nach sich ziehen. Daraus folgt, da? die Identität des Werkes dynamisch, seine Beschaffenheit als Text nicht auf Dauer fixiert, sondern wandelbar ist. Inszenierungs- und Rezeptionsgeschichte sind dem autoritativen Text nicht nachgeordnet, sondern unverzichtbare Bedingung seiner Herstellung.

Die Umstände, die Weills Leben und Werk begleiteten, verstärken diese Herausforderungen. Als schaffender, vom Reformgedanken getriebener Künstler–ob als geborener Deutscher, als Emigrant oder als amerikanischer Bürger–versuchte er stets auch die unterschiedlichen Kulturen, in denen er lebte, durch die Vermählung verschiedener Formen und Stile zu prägen–alt und neu, hoch und niedrig. Er war ein Meister der Zwischengattung; Mehrdeutigkeit der Gattungsidentität war ihm ein Hauptmittel der Darstellung und des Ausdrucks, desgleichen Ironie. Sein Anteil an der Zusammenarbeit beschränkte sich nicht nur auf die Komposition der Musik. Selten war er an der Ausarbeitung des Librettos unbeteiligt; oft grenzte sein Beitrag an Mitautorschaft. Nicht weniger bestimmend war die Rolle, die er bei der Inszenierung spielte.

Weill hat seine Werke für das Musiktheater fast immer im Hinblick auf die Aufführung konzipiert–für bestimmte Künstler, Orte und Zuschauer. Die Schaffung des Textes bzw. der Texte war zunächst ein Mittel zur Verwirklichung des Ereignisses, kein Selbstzweck. Die Aufführungen gingen aus den Texten hervor. Gleichzeitig entstanden aus den Inszenierungen neue Fassungen der Texte. Doch ist eine wichtige Unterscheidung zu machen: zwischen Revisionen, die das Werk auf die Dauer verändern, und denjenigen, die bloß eine lokale oder vorläufige Bedeutung besitzen. Eine Aufführung bringt ihr eigenes Manuskript hervor, das vom eigentlichen Text des Werkes erheblich abweichen mag. Ein Manuskript ist ein “eingerichteter” Text–mit Streichungen, Hinzuf¸gungen und Anweisungen, die sich sämtlich auf die jeweilige Inszenierung, auf eine bestimmte Besetzung und einen besonderen Aufführungsort beziehen. Es besteht daher eine Spannung zwischen der Allgemeinheit eines Textes und der Individualität von Manuskripten, die für bestimmte Anlässe zusammengestellt und bearbeitet worden sind. Diese Spannung stellt eine ständige Herausforderung an die Herausgeber dar, die derjenigen zwischen der Eigenart eines Textes im Unterschied zu dessen Reproduktion weitgehend entspricht. Obwohl die Grenzen zwischen Text und Manuskript in Wirklichkeit fließend sind, dient ihre Unterscheidung einem wichtigen heuristischen Zweck: sie hilft dem Herausgeber, zwischen bestimmten Ebenen oder Typen von Textquellen zu unterscheiden, zwischen Dokumenten eines einmaligen Ereignisses und anderen, die in textlicher Form das Werk überliefern, das das Ereignis überdauert.

Daß ein Weillsches Werk vollständig von einer einzigen Quelle überliefert wird, stellt eher die Ausnahme als die Regel dar. Im Bereich der Werke für das Theater gibt es keine einzige Ausnahme: jede Quelle repräsentiert nur einen Teil des Werkes. Indem sie nur gemeinsam den vollständigen musikalischen und literarischen Text des Stückes bilden, ergänzen sich die Quellen gegenseitig. Eine Hauptaufgabe der Edition besteht darin, diese Textteile der Bühnenwerke miteinander zu verbinden und soweit wie möglich Diskrepanzen zwischen ihnen aufzulösen. Das Fehlen von vollständigen Quellen setzt den traditionellen Unterschied zwischen Haupt- und Nebenquellen au?er Kraft. Die Herausgeber stützen sich auf alle verfügbaren Quellen des gesamten Zeitraums vom Beginn der Inszenierung bis hin zu dem Punkt, wo die Mitarbeit des Komponisten aufhört. Als Synthese der Quellen, auf die sich die Edition beruft, mag das in ihr enthaltene Werk nie in derjenigen Form existiert haben–weder als Text noch in der Aufführung–, in der es vorgelegt wird. Hier spielt der kritische Apparat eine entscheidende Rolle, indem er alle relevanten editorischen Entscheidungen begründet. So wie die Edition die Verschiedenheit des Weillschen Werkes im ganzen umfa?t, so spiegelt jeder einzelne Band die dynamische Identität eines jeden Werkes wider. Dem Benutzer werden historisch begründete Möglichkeiten zusammen mit den Kriterien geboten, die ein kritisches Urteil ermöglichen.

The Editorial Board
David Drew, Stephen Hinton, Kim H. Kowalke und Giselher Schubert
New York, Mai 1999

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